Leben, Tod und Türme

Hintergrund: Vor 55 Jahren eröffnete der Intendant Eberhard Gieseler die ersten Gandersheimer Domfestspiele mit einer Inszenierung von Hugo von Hofmannsthal “Jedermann”. Die Hauptrolle spielt Gustav Fröhlich, für Tischgesellschaft und Rufer-Rollen wurden SchülerInnen aus dem Rosvitha-Gymnasium auf die Bühne geholt, von denen viele noch heute in Gandersheim leben.

Die Stiftskirche hat geläutet. Allegorische Verdichtung. An vier erhöhten Gebäuden stehen sie bereit. Schuljungs, die etwas ausrufen werden, weit über alle Dächer der Stadt. Ein Wort nur, noch ist es nicht gesprochen, nur geübt, nur bereit, nur in Anschlag irgendwo im Kehlkopf. Ein Wort, dreimal wiederholt, wird das Leben entlang der Gande für immer verändern, von der Georgskirche bis zum Eterna-Einfluss, und weit darüber hinaus.

Es ist 1959. Die Stiftskirche hat geläutet. Heute geht der Tod um. Etwas wird sterben an diesem Abend, und etwas anderes geboren werden. Peter steht vor dem Rathausturm und wartet. Wegen seinem Stimmorgan hat man ihn ausgewählt aus vielen anderen Klassenkameraden, in einer Turnhalle voll Sägespäne und Viehsalz auf dem Boden. Er hat auch Dinge auf die Bühne getragen. Eine tragende Rolle. Aber entscheiden wird es sich gleich. Vielleicht lässt er den Blick kreisen, vielleicht atmet er tief die Abendluft ein, vielleicht denkt er an die bevorstehenden Ferientage. Er steht. Er wartet. Es gibt noch viele andere. Unten stehen Klaus und Winfried, Elke und Renate, Wolfang und Ursula. Einige andere. Der Lehrer hat sie angesprochen auf dem Gymnasium. Aber vom Tod hatte er nichts gesagt. Auch vom Leben hat er nicht viel gesagt. Er hat etwas von einem Eberhard gesagt und von einem Gustav, irgendwelche berühmte Menschen. Sie sind irgendwo da unten, es scheint so weit weg von hier, und mit ihnen wartet der Tod. Es wird einer sterben, dessen Sünden zu groß geworden sind, sein Geiz, seine Habgier, sein Geldbeutel. Peter kann das nicht passieren. Er bekommt für seine Stimme nur eine Bockwurst mit Kartoffelsalat.

Jetzt ist es fast soweit. Ein Wort bündelt sich langsam in seinem Kehlkopf, das einem Mann den Tod bringen wird. Man wird es noch weit über die Jahrzehnte nachklingen hören, bis nach Braunschweig und Hannover, denn das Leben wird immer wieder kommen, Sommer um Sommer.

Die Stiftskirche hat geläutet. Auf vier hohen Gebäuden ist man bereit, Peter ist bereit. Der Tod ist bereit. Luft sammelt sich in Lungen. Der Leben ist bereit. Allegorische Verdichtung.

Jedermann.

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