Kolumne: Vorher und Nachher

Gandersheimer Geschichtskasten
– Eine Reflexion über 240 Stunden Gesprächsaustausch

Abschlusstext für das Gandersheimer Kreisblatt. Ein Fazit aus zehn Tagen im „Gandersheimer Geschichtskasten“ ziehen zu wollen, ist eigentlich unmöglich. Von Freitag, den 12. Juli, bis zum vergangenen Sonntag, campten wir in einem Kastenzelt im Kulturhof. Im Rahmen des Domfestspiel-Themas „Fremde Heimat“ wurde in diesem Zelt geschrieben, gezeichnet, komponiert, Kaffee und Wein getrunken und zugehört. Ein Fazit zu wagen, ist schon deswegen unmöglich, da es allzu leicht in gefährliche Nähe zu einer Art Beurteilung gleiten mag, etwa: „wir wissen nun, was den Gandersheimer wirklich bewegt“. Die Storys und Räuberpistolen, über die man sich in herzlichen Kaffee-Einladungen im Seniorenzentrum oder beim Pfarrfest, bei bierseligen Gesprächen im Moin Moin oder bei lagerfeuerhaften Gitarrenklängen vor dem Zelt erzählte, waren viel zu zufällig und selektiv, um daraus etwas verallgemeinern zu können. Geschätzte Statistik: 98% aller Leser des Kreisblattes hatten höchstens – genau hier – im Kreisblatt etwas mit uns zu tun. Vielleicht sollten wir also gar nichts über eine Stadt im Landkreis Northeim erzählen, sondern über unsere eigene Erfahrungen hier. Über das, was hier alles anders, spannend, interessant oder befremdlich war, im Vergleich zu anderen Städten, in denen es zuvor einen „Kasten“ gab. Das ist insofern ganz interessant, als dass wir vorher, schlicht gesagt, nur in Studentenstädten gecampt haben, obwohl wir gar keine Studenten mehr sind. In Gandersheim war einiges sehr, sehr anders.

Ich will bleiben bei den Bildern, im Sommer, hier gibt es Musik und Konzerte auf dem Flugplatz und wenn du die Aufnahmen von damals hörst kannst du den Regen hören, der sich mit dem Fluss vermischte, den Regen und den Donner und wir würden über die Hügel laufen, vielleicht auf einen Weg, den ich gut kenne, einen Weg voller Gesichter und kleinen Figuren.
Auszug aus: Skizzen auf nikotingelbem Papier, Szene x

Im vergangenen Jahr hausten die Kastenwesen in Erlangen auf der Mitte des Erlanger Schlossplatzes, auf dem täglich sehr viele hundert Menschen, auf dem Weg zu Uni oder Arbeit, sich kopfschüttelnd fragten, wer diese seltsamen Zeltbewohner sind. Und warum sie keine ordentliche Arbeit hätten. Und ob man ihnen nicht mal um vier Uhr nachts Bier stehlen könnte. In Gandersheim gab es keine nächtlichen Randalierer, keine Polizeikontrollen, keine stadtbekannten Obdachlosen. Wir hatten mit sehr, sehr viel weniger Menschen Kontakt. Aber es gab auch viele, die viele Abende wiederkamen. Vielleicht ist das genau der Unterschied in einer Stadt, in der man grundsätzlich seinen Nachbarn kennt. Die ausschnittartigen Kontakte, die man während einer 10tägigen Performance machen kann, sind stark begrenzt. Aber die Gesichter, mit denen man zwischen dem 12. bis zum 21. Juli jeden Tag ein wenig mehr Lacher austauschen konnte, kamen aus völlig verschiedenen Gandersheim-Ausschnitten: Edeka-Verkäufer, Nachtwächter, Zeitungsausträger, Schüler, Moritzstraßen-Gewerbeinhaber, Kneipenwirte, Chefredakteur, Intendant. Überrascht und überaus erfreut hat uns vor Allem, wie viele Menschen, die deutlich älter waren als wir, von ihrem Gandersheim der Jugendzeit berichtet haben.

Was strömt, das sind sie Zeiten, sie umspielen ihre Steine
Und führen die Erinnerungen, meine deine seine
Erinnerung an Winter und den kleinen Bootsverleih
der lange vor dem neuen Bau wohl hier gewesen sei
Wo Kinder, heute reich an Jahr‘n, mit wackeligen Kufen
auf ihrem fest gefror’nen Lauf hier spielen, springen, rufen
Mit Kutschen, Äxten kam man an, um aus ihr Eis zu schlagen
das sie zum Ziel gekühlten Biers in ihre Keller tragen
Auszug aus: Flusskuss

Es gab Besucher im Kastenzelt, die mit Schuhkartons voller alter Bücher und Briefe zu uns kamen, und es gab viele, die die wundervollsten Anekdoten auf Lager hatten. Oder selbst großartige Projekte auf die Beine stellen oder, ganz ehrenamtlich, versteht sich, ein entscheidendes Puzzlestück der Stadt gefunden haben. Und dennoch traut sich kaum einer zu, interessant zu sein, spannend zu sein. Ich habe auf meinem kleinen Hosentaschen-Notizblock nur solche Mitschriften notiert, mit denen ich mich gerne künstlerisch beschäftigen wollte. Die wir anderen nacherzählen wollten. Ich habe zwei komplette Blöcke vollgeschrieben. Wir wurden oft gefragt, warum wir das alles machen, wenn wir nichts damit verdienen. Die Antwort ist bestimmt für jeden von uns vier ein wenig verschieden. Aber generell war es künstlerisch so eine große Herausforderung, diesen Geschichten, diesen Erinnerungen, gerecht zu werden, dass wir alle noch über viele Wochen hinweg „Gandersheimer Geschichten“ bearbeiten würden. Und erzählen, vorlesen, aufführen würden. Denn obwohl es zunächst nur Erinnerungen von Einzelnen sind, sprechen sie auch zu so vielen anderen. Wie der eine Moment, an dem 1959 mit dem Ruf „Jedermann“ die Domfestspiele in die Stadt kamen.

Die Stiftskirche hat geläutet. An vier erhöhten Gebäuden stehen sie bereit. Schuljungs, die etwas ausrufen werden, weit über alle Dächer der Stadt. Ein Wort nur, noch ist es nicht gesprochen, nur geübt, nur bereit, nur in Anschlag irgendwo im Kehlkopf. Ein Wort, dreimal wiederholt, wird das Leben entlang der Gande für immer verändern, von der Georgskirche bis zum Eterna-Einfluss, und weit darüber hinaus.
Auszug aus: Leben, Tod und Türme

Verdichtete Momente, symbolische Momente. Für Dich, für ihn, für einen Unbekannten bei Adi’s. Um das sehen zu wollen, muss man alles ernst nehmen, auf jeder Ebene. Kneipenwitze müssen ernst genommen und mit guten Pointen beantwortet werden. Ein wichtiges Anliegen muss ernst genommen und mit einer Video-Dokumentation beantwortet werden. Eine anvertraute, schmerzhafte Erinnerung muss mit ganz vorsichtigen, ganz tastenden Texten beantwortet werden, die niemanden bloß stellen. Alles, was für irgendwen bedeutsam ist, ist eine große Herausforderung. Und dann fangen Witze und Klagen und Begeisterung irgendwann an, sich zu wiederholen, und es zeichnen sich gemeinsame Geschichten ab. Von einer geteilten Vergangenheit, in der alles größer, besser, lauter war. Von all den leer stehenden Gebäuden.

Nun zieht der Wind durch leere Zimmer
und unterm Grundstein zieht der Fluss
Eine Zeit zieht auf zur Nächsten
Sie traf mich auf dem falschen Fuß

Ich stand einmal auf Bälle
Ich stand mal auf Kultur
Ich stand einmal auf Tanz und Rausch
Auf einmal stand ich dann zum Tausch

Und ich werde hier noch stehen
Wenn die nächste Zeit vergeht
Nur der Fluss wird mich noch tragen
Wenn Staub von meinen Mauern weht.
Auszug aus: Skizzen auf nikotingelbem Papier, Szene 5

Etwas außerhalb der Innenstadt wurden uns spannende Projekte vorgestellt, die wir nie im niedersächsischen Land vermutet hätten; die andere Menschen anlocken. Und in all den ehrenamtlichen Institutionen wurde uns eine Begeisterung vermittelt, die von unserem jeweiligen Zuhause ganz weit weg ist. Und dennoch klingt von überall der gleiche Abgesang, dass „endlich einmal wieder etwas passieren müsse“, hier. Dass es so toll sei, dass wir „etwas auf die Beine stellen“. Als Außenstehender, mit völliger Narrenfreiheit, kann man natürlich immer alles sagen! Nach dem Ende dieses Projekts sind wir nun bereits wieder in unseren Heimatstädten. Nichts, was wir an lustigen Produktionen gebastelt haben, wird irgendetwas „verändern“. Warum wurde uns dennoch andauernd vorgeschlagen, doch mal was „zum Thema Ehmen“ zu machen, teils sehr vehement? Für uns war das erstmal nur ein Zeichen für großen Bedarf nach Austausch. Als Außenstehender, mit Narrenfreiheit, ist bestimmt alles leichter. Pointen über „die Schuld “ sind sympathieschaffend. Unser abschließendes Statement zu dem Thema, in Comic-Form, ist hier auch noch einmal zu sehen. Aber obwohl dieses Thema zweifellos dasjenige war, das bei uns am meisten diskutiert wurde, gab es so viele andere Gesprächsanliegen, hinter denen noch viel mehr steckt. Und teilweise sind sie nicht einmal den eigenen Nachbarn bekannt.

Heute treiben Ideen durch meine Räume und verweilen Tag für Tag. Und Woche um Woche treiben sie in meinen Garten und finden feste Form. Und ihre Stimmen sind mein Wasser und Jahr für Jahr strömen sie weiter und weiter und unsere Räder stehen nie still. Ein Wind über Feldern wie Kreise die gehen, in der Mitte die Stimme von Rädern die weiterhin drehen.
Auszug aus: Alte Mühle

Insgesamt bleibt, als Fazit, eher eine Art Dank zu sagen. Für eine intensive Woche, in der man in sehr wenig Zeit dennoch viele Menschen treffen konnte, die sich über Gandersheim austauschen wollten; darüber, was ihre Stadt ausmacht, ihre Erinnerungen, auch ihre Zukunftserwartungen. Ein Dank für viel Gastfreundschaft, Vertrauen und Inspiration an diese seltsamen „Kastenwesen“. Ein Dank an Thomas Fischer, dafür, unsere seltsamen Gedanken zwischen Comedy und Kolumne auf die Außenwelt loszulassen (und für das tägliche Frühstück). An Christian Doll für viel Vertrauen in ein potentiell unkontrollierbares Projekt. Und schließlich ein Dank an Miguel, den 16jährigen Teilnehmer unseres Jugend-Workshops, der nach Workshop-Ende einfach geblieben ist und zum fünften Kastenwesen wurde – alleine dafür hätte sich das ganze Projekt gelohnt. Gegenseitige Aufmerksamkeit, darum geht es! Fehlt es also vielleicht einfach an Räumen, in denen mehr Austausch stattfindet? In denen all die Ideen und Energie, das Engagement und die Begeisterung, die tatsächlich unentwegt in Gandersheim kreisen, einander finden können? Sich gegenseitig Mut machen und sich ernst nehmen? Ich glaube nicht, dass wir das beurteilen können. Unsere ganze Arbeit war, natürlich, nicht einmal ein Kratzen an der Oberfläche. Darunter liegt ganz viel Gandersheim, an das man als Besucher nie heran kommt. Aber so oft doch gerne würde.

Irgendwann will ich zurückblicken können und ich will wissen, dass da eine Stadt war, nein, das weiß ich, und diese Stadt sucht ihre Zukunft und sie sucht und sucht aber da sind noch andere Städte, die genauso suchen und sie suchen gemeinsam und jeder für sich und jeder erzählt für sich seine Geschichte und genauso die des anderen und wie sollen sie da je etwas alleine finden, in diesem Gewirr.
Auszug aus: Skizzen auf nikotingelbem Papier, Szene x

Wir sind sehr gespannt darauf, welche Ideen die Veranstalter der Domfestspiele in den kommenden Jahren entwickeln, um auch außerhalb der spannenden Bühnen-Produktionen neues Leben nach Gandersheim zu tragen. Ob die Kastenwesen irgendwann noch einmal eine kleine Zeltburg des kreativen Austauschs errichten werden, oder einfach als Gäste zu den Domfestspielen pilgern – wir freuen uns sehr auf ein Wiedersehen mit all den Menschen, die man in der Kürze der Zeit doch lieb gewonnen hat. Die vollständigen Texte, die hier nur in Ausschnitten eingeblendet wurden, sowie alle Bilder und Videos, die im Rahmen des „Gandersheimer Geschichtskastens“ entstanden sind, lassen sich online unter https://e749c097.vhost.manitu.de einsehen.

Lukas Wilde, Kastenwesen

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