Der Kasten rollt nach Gandersheim
Welche Arten von ‘Geschichten’ machen die gegenwärtige Identität der Stadt Bad Gandersheim aus? Handelt es sich um ein gemeinsames Erinnern an ein Jugendhaus, das vor einigen Jahren geschlossen wurde? Um Lokalzeitungsskandale auf dem letzten Altstadtfest? Oder um politische Fragen über Sozialabbau und Abwanderung? Und mit welchen Mitteln lassen sich diese Momentaufnahmen vermitteln? Mit welchen künstlerischen Formen kann man darauf zugreifen, damit sich auch die Gandersheimer darin wiederfinden und diese Geschichten als die ‘ihren’ wiedererkennen – oder kontrovers diskutieren?
Im Mittelpunkt dieses Projekts steht der Domplatz, auf dem Kili, Lukas, Phil und Stefan für zehn Tage lang – 24 Stunden rund um die Uhr – leben, schlafen und arbeiten:
Die Kastenwesen.
Mario Gremlich & Martin Werner – Zur Kastenwesen-Version
Kubische Ziele
Das Ziel der Kastenwesen ist die Sammlung von Gandersheimer Geschichten. Zehn Tage lang gehen sie auf die Gandersheimer zu, nehmen sie in Empfang und stellen Kontakt mir ihnen her. Sie reden, trinken ein gemeinsames Bierchen und hören zu. Sie sammeln Geschichten. An deren Entstehung sollen die Bewohner der Stadt, die Gäste und zufälligen Besucher des Zeltes rege – rund um die Uhr – eingebunden werden. So wird ein kommunaler Dialog im öffentlichen Raum entstehen, eine Sphäre der gegenseitigen Aufmerksamkeit dafür, was das heutige kulturelle Gedächtnis Bad Gandersheims für Bewohner unterschiedlichster Alters-, Sozial- und Bildungshintergrunde auszeichnet.
Durch die interdisziplinäre künstlerische Bearbeitung der Stoffe und die sehr unterschiedlichen Herangehensweisen der vier Künstler werden diese Geschichten auf neue, besondere Weise sichtbar, erlebbar und diskutierbar.
Sichtbarkeit im Quadrat
Solchen Fragen wird der Gandersheimer Geschichtskasten zusammen mit Besuchern der 24 Stunden täglich offenstehenden Zeltbehausung auf dem Domplatz nachgehen und sichtbar machen: nicht nur für die Bewohner Gandersheims selbst, sondern durch die Abschluss-Aufführungen zwischen den Haupt-Stücken der Domfestspiele am 20. und 21. Juli auch für überregional zugereiste Gäste.
Ganz wesentlich für das Projekt wird eine gute Einbindung ins kommunale Leben sein. Dies soll nicht zuletzt durch das tägliche Format „Mittagsmarkt der Geschichten“ erreicht werden: Gandersheimer Gastwirte und Privatleute laden dabei die vier Künstler zu gemeinsamen Mahlzeiten ein. Im Rahmen dieser Essen sollen dann Geschichten ausgetauscht werden – als Dank erhalten die Gastgeber eines der Kunstwerke, die die Kastenwesen im Laufe ihrer Produktionzeit in Gandersheim erstellen. Gleichzeitig zu solcher kommunaler Einbindung kommt diesem Projekt auch eine hohe Übertragbarkeit auf andere Orte und damit ein exemplarischer Vorreiterstatus zu.
Eckige Vorproduktion
In einer ca. einwöchigen Vorproduktionsphase in der Woche ab dem 11. Juni werden Florian Götz und Lukas Wilde sich von Bewohnern Bad Gandersheims frei improvisierte „Stegreif-Karten“ und Pläne ihrer Stadt anfertigen lassen. Dabei werden sowohl Bildungseinrichtungen wie die Grundschule, als auch Freizeitorte wie Schwimmbad oder Kneipe aufgesucht, um möglichst weite kulturelle und soziale Bereiche abzudecken. Der so von der Bevölkerung erstellte Korpus von gänzlich subjektiven Karten wird daraufhin auf Überschneidungen, Gemeinsamkeiten und wiederkehrende Strukturen untersucht, aus denen Grafikdesigner Kilian Wilde – dezidiert ohne tatsächliche Kenntnis der Stadt – einen großformatigen DIN-A0-Stadtplan abstrahieren und ausgestalten wird. Diese Karte, welche so allein aus subjektiven Zuschreibungen und Empfindungen der Bevölkerung entstanden ist, wird die Ausgangsbasis für alle Produktionen während der Woche Geschichtskasten darstellen.
Live aus dem Kasten
Keine der einzelnen Produktionen wird inhaltlich im Vorfeld vorbereitet sein. Stattdessen wird alles, was entstehen wird, live und in Echtzeit, zusammen mit zufällig oder wiederholt Anwesenden gefunden, erstellt und diskutiert. Trotzdem wird es den Kastenwesen gelingen, innerhalb von einer Woche mehrere Dutzend solcher „Kleinkunstwerke“ zu vollenden, die nach Ende der Produktionszeit Gandersheimern übergeben werden, die zum Projekt durch Geschichten oder materielle Unterstützung wie Essenseinladungen o.ä. beigetragen haben.
Die Kastenwesen sind eine Erlangen/Aschaffenburg/Tübinger-Künstlergruppe, die im engen Kontakt mit dem „Interdisziplinären Forschungskolleg Karl Nimeni: Natur und Kultur der Nacht“ steht. Durch das Nimeni-Kolleg, das im letzten Jahr bereits mit NIMENIS NACHTMUSEUM bei den Gandersheimer Domfestspielen vertreten war, kam der Kontakt zu den Kastenwesen zustande. Nachdem bereits das Nachtmuseum guten Anklang beim Gandersheimer Publikum gefunden hat, freuen sich die Domfestspiele in der Spielzeit 2013 mit den Kastenwesen erneut interaktionsfreudige Theatermacher im öffentlichen Raum begrüßen zu dürfen.