Kolumne: Lagerfeuergeschichte Gandersheim

„Geschichten? In Gandersheim?! Na viel Glück…!“ Das erste Gespräch in der Zuganfahrt aus Göttingen ist von erfrischendem Fatalismus geprägt. Am 12. Juni reise ich als „Kastenwesen“ von Frankfurt nach Niedersachsen, um zusammen mit Florian Götz von den Domfestspielen für den „Gandersheimer Geschichtskasten“ zu recherchieren. Wir wollen eine erste Panorama-Sichtung von allem vornehmen, worüber entlang der Gande gesprochen wird und lassen uns vier Tage lang durch Straßen, Kneipen, Bildungseinrichtungen und Freizeitorte treiben. Die Abbildung zeigt den völlig subjektiven Gandersheim-Stadtplan, mit dem Kastenwesen Kili die zehn Freihand-Zeichnungen der Stadt zusammen gefasst hat, an deren Entstehung aus dem Gedächtnis sich viele Dutzend Bewohner beteiligt haben. All das dient einem ersten Eingrenzen dessen, was Gandersheimer Geschichten sein könnten.

„In den 80ern, da war das mal ein schönes Städtchen…“, klagt der Wurstverkäufer bei meiner ersten Thüringer. Solche Niedergangsgesänge sind allüberall zu vernehmen. Vielerorts trägt man die lange Liste der landschaftlichen und baulichen Verbrechen, der Schließungen und Kahlschläge vor; der Vorzeige-Gemeinde Heckenbeck droht gar eine 380Volt-Ghettoisierung… Und ob die Landesgartenschau-Pläne nicht „Gamaschen, aber ohne Strümpfe“ darstellen, wo sich z.B. der Kurpark mit viel geringeren Kosten sanieren ließe, das weiß ein Gast im Café Quo Vadis auch nicht so recht. Er fasst die Gandersheimer Politik in drei Regeln zusammen: „Das haben wir noch nie so gemacht. Das haben wir schon immer so gemacht. Und da könnte ja jeder kommen!“

Doch wir finden auch andere, viel positivere Geschichten. Solche laufen auf zwei Beinen, belegen häufig Ehrenämter und stellen Gewaltiges auf die Beine. Erzählt werden muss von Lehrern in der Freien Schule Heckenbeck, bei denen kein Körnchen Nihilismus die grenzenlose Begeisterung trüben kann; von Fabian und anderen, die in Jugendfeuerwehr und den Werkstätten für Menschen mit geistiger Behinderung flammenden Enthusiasmus sähen; von Hardy und Lothar, die das Sole-Bad wie ein U-Boot durch die schwersten Stürme schippern; von Pfarrer Ehgart, von dem irgendwie jeder etwas begeistert zu erzählen weiß. Museum, Grün-Weiß, Gandeon-Kino… die Liste ließe sich lange fortsetzen: irgendwann drängt sich mir der Eindruck auf, Gandersheimer Zivilbegeisterung hätte das Zeug zum deutschlandweiten Exportgut. Erzählt werden muss auch von herzlichen Kneipenabenden, in dem ein wohlmeinender Mäzen („mein Name tut nichts zu Sache!“) die Kastenwesen einlädt und mitreißend ausführt, warum es so frisches Bier in solcher Atmosphäre in keiner anderen Stadt gäbe – nach dem dritten sind wir völlig davon überzeugt! Leute, die alles nur schwarzmalen, gehen ihm fürchterlich auf den Senkel, bringt es ein Stadtführer bei Adis auf den Punkt!

Wessen Geschichten verdienen es, erzählt zu werden? Kommt in unseren kleinen Kasten auf dem Kulturhof, wo wir vom 12. bis zum 21. Juli rund um die Uhr hausen, zelten, musizieren, erzählen, zeichnen und Heldentaten des Alltags besingen! Bad Gandersheim soll eine Lagerfeuergeschichte werden!

 

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