Architektur der Choräle

Hintergrund: Das Kloster Brunshausen ist nicht nur der geschichtsträchtigste Ort Gandersheims – in unserer Rosvitha-Lesung in der Marienkapelle heute abend durfte man bereits dem Gründermythos der Stadt lauschen. Die eher dunkelen Seiten sind auch weithin bekannt (vgl. bereits hier). Im Klosterhof gibt es auch ein Café und Gästehaus, in dem die Familie Löming eine wahre Schatztruhe an Erzählungen in ihren Köpfen trägt, die sich in, um und an dem alten Gebäude abgespielt haben. Die allermeisten davon sind auch den Gandersheimern völlig unbekannt.

Erst ist es nur der Wind. Das Rauschen der Bäume und das Zwitschern verirrter Vögel bildet eine Partitur, auf der sich mit jedem Schritt, den Skulpturenweg entlang, eine kleine Melodie einnistet. Eher eine Art Sprechgesang, ein Flüstern, aber zu undeutlich zum Verstehen. Irgendwann wird ein alter Bau sichtbar und die Stimmen haben sich zu einem murmelnden Orkan am Himmel zusammengebraut. Hier hat alles begonnen, ein Ground Zero, eine Genesis, und mit jedem Jahr wuchs die Last zu erzählen, die nun der Wind zu tragen hat. Ein Choral aus Kakophonien und Widersprüchen und Biographien, die alle etwas sagen wollen, sagen, immer weiter sagen. Die Stimmen fließen aus dem alten Kloster aus, bluten aus seinen Wänden und bilden fast alles ab, was zur Erzählung von Deutschland gehört.

Um sie zu hören, muss man sie ordnen, begehbar machen, Architektur errichten. Räume errichten. Die Geschichte des Klosters Brunshausen hat drei Zimmer.
Zimmer Eins: Mittelalter, Bildungsstädte, Reformationszeit, Kulturhochburg. Rosvitha.
Zimmer Zwei: Lager. Frauen- und Kinderlager. Die nicht so schöne Zeit.
Zimmer Drei: Ausflugsziel. Renovierung. Museum. Aufarbeitung. Angefüllt mit Karten zu Zimmer Eins und Zimmer Zwei.

Drei Zimmer, um den Sturm der Choräle in Bahnen und Kanäle zu lenken, ihn in Mauern und Mörtel und Anstrich zu fassen. Doch streckt man die Hand aus und nähert sie langsam dem Putz, dann steigt das Geflüster wieder aus dem Kalk, es will herausbrechen, hervorbrechen, neue Türen zu unbekannten Zimmern aufreißen, die in so großer Zahl dahinter liegen.

Die Zimmer 1945 bis 1989. Erste Tür: Wandmalereien von Pyramiden. Ein Zimmer weiter. Graffittis aus der Kriegszeit. Eine Tür hinein, eine Treppe nach oben: Eine Frau macht Ordnung, indem sie alles aus dem Fenster wirft und mit Benzin übergießt. Zwei Türen zur Auswahl, links: Eine Frau hat sich erhängt. Rechts: Über eine 30 cm breite Regenrinne führt ein Weg zur alten Glocke, auf der Gras angebaut wird. Zwei nach Oben: Eine komplette eingerichtete, aber leerstehende Wohnung. Zwei Zimmer vor, einen Gang zurück: Landarbeiter, die ihre unbeheizten Wohnungen mit Wolldecken abhängen. Im gleichen Zimmer: Bitterste Armut. Ein paar Zimmer vor: Immer noch keine Heizungen, Hippie-Kommune, Badewanne im Hof. Zwei Treppen zurück, ein paar Jahre vor. Zimmer eins: Türken aus Izmir. Zimmer zwei: Benno. Zimmer drei: Kurden. Türken: „Die Kurden stinken.“ Kurden: „Die Türken spinnen“. Benno versteht es noch nicht. Ein Trakt nach Vorne: Ein alter Mann erscheint, der eine Wildfalle als Kind hier angebracht hatte. Viele, viele Zimmer früher.

Sie kamen, sie gingen, sie kamen wieder, sie ließen etwas da. Sie erzeugten kleine Töne und Klänge und Rufe und stimmten in den Sturm ein. Ein Choral aus Kakophonien und Widersprüchen und Biographien, die alle etwas sagen wollen, sagen, immer weiter sagen. Um sie zu hören, muss man sie ordnen, begehbar machen, Architektur errichten. Räume errichten. Es gibt hier mindestens so viele Räume wie Stimmen im Choral.

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